Freitag, 7. Januar 2011

Der „Alltag“ hat uns wieder - schockierende Erlebnisse

Nachdem wir unser Weihnachten so feierlich und stimmungsvoll gefeiert haben, kommt hier nun wieder ein Eintrag über das „normale Alltagsleben“...
Neben den Tailoring classes, die wir immernoch mit Freuden besuchen (wir haben unsere erste Hose genäht :-D), dem Englisch Unterricht, der in letzter Zeit wegen den exams öfter mal nicht stattgefunden hat und einer Menge Zusatzarbeiten (wie NMCT-Blogediting und dem Übersetzen von Broschüren) hatten wir auch wieder ein paar field visits und andere Ereignisse, die wir gerne mit euch teilen wollen.
So besuchten wir einige VIMUKTHA-Mitglieder (VIMUKTHA ist eine Frauen- Selbsthilfegruppe) in einem kleinen Teil von Coimbatore.
Diese Frauen, die meist keinen Mann mehr (aber oft noch Kinder) haben und in sehr ärmlichen Verhältnissen leben, haben sich durch NMCT zu Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen und treffen sich einmal im Monat, um über ihr Leben, ihre Arbeit und Allgemeines zu reden und um sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen. Auch finanzielle Dinge werden besprochen und gemeinsam geregelt, so konnte sich ein großer Anteil der Mitglieder dieser Self-Help-Groups nur durch Mikrokredite (wer’s nicht weiß, einfach googlen ;-)) ein eigenes Dasein aufbauen, viele haben kleine „Pettyshops“ oder verkaufen Blumengirlanden, Saristoffe und Bangles an Personen in ihrem Umfeld.

Während unserem Besuch konnten wir leider kein solches Treffen, bei dem meistens auch eine Frau den anderen eine ihrer Fähigkeiten vermittelt (zB Blumengirlanden binden), erleben, trotzdem waren die Begegnungen mit den verschiedenen Mitgliedern sehr interessant.
Wir trafen Frauen, die uns wunderschönen Goldschmuck zeigten, standen auf Hausdächern, auf denen in Palmblatthütten Pilze gezüchtet wurden, saßen in Hinterzimmern und aßen Idli (Südindische Spezialität) und bekamen Süßigkeiten und Cola in Pettyshops.
Insgesamt war es ein toller field visit, der zum Ende hin noch von einer Schar Kinder gekrönt wurde, die nicht nur hunderttausend Fotos machen, sondern auch mal alle unsere Arme anfassen wollten, damit vielleicht mit etwas Glück ein wenig von der hellen Hautfarbe an ihren Händen hängenblieb.
(Etwas erschreckend ist dieser Hautfarbenwunsch ja schon, aber wenn man mal drüber nachdenkt, warum legt sich unsereins denn den ganzen Sommer in die Sonne?!)

Der zweite field visit war vorallem eins: schockierend!
Wieder einmal besuchten wir das TAI-Project, diesmal allerdings nicht direkt, viel mehr ging es in ein governmental hospital (staatliches Krankenhaus), damit wir uns dort mit einem Arzt unterhalten konnten, der viele Mitglieder des TAI-Projects behandelt.
Schock. Das Krankenhaus war absolut gru-se-lig. Wir hatten ja schon damals beim privaten Krankenhaus das leise Gefühl, dass deutsche (staatliche) Krankenhäuser nochmal etwas ganz anderes sind. Aber während wir in dem privaten Krankenhaus nicht wirklich beunruhigt waren und auch nicht das Gefühl hatten, es könne irgendetwas schief laufen, hatten wir diesmal einen komplett anderen Eindruck.
- Man stelle sich vor:
Ein altes Gebäude, schon von außen schmutzig und mit abgeblätterter Farbe, rundherum unglaublich viele Menschen verstreut, die wohl alle auf Behandlungen warten.
Die Eingangshalle grau und muffig, ohne Fenster, wiederum viele Menschen überall.
Die Treppen abgelaufen, die Wände angelaufen, im ersten Stock finden wir eine Baustelle mit Sandhaufen, abmontierten Waschbecken die auf dem Boden rumliegen, allerhand Baumaterialien, Dreck, Staub.. aber das Stockwerk ist nicht geschlossen.
Der zweite Stock, in dem wir den Doktor treffen sollen, ist wieder voller Menschen. - Man sagte uns, ca 5.000 Menschen würden hier jeden Tag behandelt.
Wieder sind die Wände schmutzig, es gibt kaum hygienische Maßnahmen.
Beim Labor steht die Tür offen und man sieht einen Mann in Hemd und Jeans, der gerade Abfälle in einen gewöhnlichen Plastikmülleimer wirft.
... unvorstellbar.Als wir den Doktor trafen, erzählte uns dieser, dass sie endlich den Antrag auf ein paar Gegenstände genehmigt bekommen hatten – die Gegenstände waren Dinge wie besipielsweise eine Taschenlampe (!).
Wir fragten, was sie denn vorher gemacht hätten. - Darauf die nüchterne Antwort: „Man bringt eben seine eigenen Sachen von zuhause mit.“
So ging es dann auch munter weiter. Während wir mit der nächsten Arztin redeten, begann der gesamte Raum nach Urin zu stinken und uns fiel auf, dass die Toiletten auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges waren.
Die Frau erzählte uns, dass ihr Job eher hart wäre und es an der Tagesordnung sei, dass man Tuberkulose bekomme, denn es übertrage sich ja durch die Luft (Reaktion von Katja und Charlotte: Schal an den Mund, verzweifelte Blicke) – als wir aus diesem Raum herauskamen und an der nächsten Tür auch noch das Schild „Urban Leprosy Centre“ zu lesen war, hatten wir beide endgueltig das Gefühl, das Krankenhaus fluchtartig verlassen zu müssen.
Trotz all diesen Schilderungen (und nein, wir übertreiben wirklich nicht) wird in diesen Krankenhäusern von denen es alleine in Coimbatore gefühlte hunderttausend gibt, vielen Menschen geholfen, die Ärzte sind freundlich und man hat das Gefühl, sie tun ihr Möglichstes um allen zu helfen.
- Trotzdem waren wir froh, als wir das Krankenhaus hinter uns gelassen hatten.

Fuer die naechsten Tage sollte dies jedoch nicht unser einziger schockierender Besuch bleiben, da wir uns fuer die Feiertage vorgenommen hatten, die Kinder daheim zu besuchen um mehr ueber ihre Vergangeheit zu erfahren und diese in einer Fallstudie zu dokumentieren.
Auf gut deutsch: es lag eine Heidenarbeit vor uns.
Jeden Tag fuhren wir stundelang im Bus ueber staubige Landstrassen, stellten zahlreiche Fragen und waren mehr als einmal emotional am Ende, was meistens Unverstaendnis bei unseren Begleitern hervorrief. Alle Geschichten die wir hoerten, waren gerpaegt von Armut, viele von unheilbaren Krankheiten oder familiaeren Konflikten, die uns die Haare zu Berge stehen liessen. In kleinen, vollgestopften (aber trotzdem furchtbar kahlen) Hauesern sassen wir auf den einzigen vorhandenen Stuehlen – auf denen wir zu sitzen aufgefordert wurden – und haetten am liebsten keinen Keks und keinen Tropfen Tee von den Familien angenommen, die sich doch selber so oft keine regelmaessigen Mahlzeiten leisten konnten. Wir erlebten ein Leben, dass dem unseren so fremd war, wie es nur sein konnte. Nur einmal verschmolzen die beiden Welten und dieses Ereignis wurde für uns das am schwersten zu veraberteinde.

...Wir saßen auf dem Boden und hatten gerade wieder eine Reihe von Fragen hinter uns, welche zu stellen uns unglaublich schwer fiel, da ueber die Vergangenheit zu reden den Menschen so weh tat. Der Vater hatte Frau und Kinder brutal geschlagen und nachdem herausgekommen war, dass er HIV – positiv war, wurde es nur noch schlimmer. Nach einer Reihe heftiger Streits verließ er seine Familie schließlich fuer eine andere Frau. Auf sich alleine gestellt waren die Mutter und ihre beiden Soehne – von denen einer ebenfalls HIV-positiv ist – gezwungen in einer der Textilfabriken in Tirupur zu arbeiten, die Soehne als Schneider, die Mutter als Packerin fuer die zahlreichen Kleidungsstuecke, die Tag fuer Tag vom Band gingen, um in den Westen verschifft zu werden. Hierzu sollte man wissen, dass nahezu 80 % aller Kleidungsstuecke auf denen ‚Made in India“ steht, aus Tirupur kommen. Also auch die, die wir in unseren Lieblingsgeschäften erstehen und in Versandhaeusern bestellen. Dass die Kaufhaeuser ihre Textilfabriken nicht um die Ecke haben und dort meist Standards herrschen, die weit unter dem liegen was wir als gerecht bezeichnen, war uns bekannt. Wir hatten nur nie erlebt, welche Bedeutung dahinter steckte...
Zurueck zur Familie. Die Mutter lobte stolz ihren Zweitjuengsten (14 Jahre), er braechte das Haupteinkommen mit nach Hause, seit der Vater die Familie verlassen hatte. Der Aelteste (15) war zwar ebenfalls Schneider, aber zu geschwaecht von den Nebeneffekten seiner HIV-Infektion, um regelmaessig zur Fabrik zu gehen. So schneiderte er einiges zuhause, unter anderem auch die Waesche, die er uns stolz in einem grossen Eimer praesentierte.
Schmaechtig stand der Junge vor uns, deutlich gekennzeichnet von seiner Krankheit, mit duennen Gliedern und mueden Augen...
In dem Eimer befand sich fertig genaehte Unterwäsche. Die Mutter fischte ein Stueck hervor, alle lachten, das ganze sollte wohl ein Witz sein. Für uns war es furchtbar. Zu sehen, wo das was man tagtäglich am Körper trägt eigentlich mal herkam, durch welche Hände es ging, bevor man es im Laden kaufte... das alles nahm uns den Atem.
Um sicherzugehen, griffen wir in den Eimer und lasen das Schild.
„Bonprix“. Darunter ‚Made in India’ und der Preis in Euro. Da war sie, die Verbindung zwischen unserem zuhause – wo eine Vielzahl an Menschen genau wie wir ohne groß nachzudenken nach dem Billigsten greifen – auf der einen und den Menschen, die dieses Konzept bedienen und die Konsequenzen dafuer tragen muessen, auf der anderen Seite.
- So wie er. Der Junge, der stolz vor uns stand und auf unser Urteil wartete...
Es war eine unserer groeßten Herausforderungen, dem pruefenden Blick dieses Jungen standzuhalten, der sich kaum regelmäßiges Essen leisten kann und sehr wahrscheinlich nicht mal unser Alter erreichen wird, ein sorgloses Laecheln aufzusetzen und zu versichern, seine Arbeit sei fabelhaft.. Dass Menschen diese Kleidung zu einem grossen Teil kaufen, weil sie preiswert ist, behielten wir fuer uns.
Immer noch verzweifelt an unserem Laecheln festhaltend, dass uns nun doch zu entgleiten drohte, verließen wir diese Geschichte – und machten uns auf den Weg zu einer weiteren...

2 Kommentare:

  1. Es ist bedrückend so etwas zu lesen, auch wenn man vergleichbares schon mit den eigenen Augen gesehen hat!
    Aber was kann man tun?

    Gruß
    Marko

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  2. Was mich immer wieder beeindruckt ist die Würde, die die Menschen auf euren Fotos ausstrahlen, auch wenn es ihnen nicht gut geht. Und die Fröhlichkeit der jüngeren Kinder. Zu den Case-Studies: Ich denke, es ist schon ein erster Schritt, Bewußtsein für diese Zusammenhänge zu schaffen. Die Geschichte des Wäsche-nähenden Jungen die ihr schildert setzt sich tiefer fest als unzählige Satistiken, die man vielleicht dazu gelesen hat - ich finde es gut, dass ihr ihm hier einen Raum gebt und ich werde seine Geschichte weiter erzählen!
    Liebe Grüße,
    Mama/Birgit

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